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Zweite Halbzeit

Wir sollten die zweite Halbzeit unsers Lebens nicht mit der gleichen (inneren) Aufstellung spielen wie die erste – frei nach C. G. Jung.

Der Übergang passiert manchmal von ganz alleine, manchmal durch eine Krise initiiert und manchmal ganz bewusst. Heute blicke ich ein Jahr zurück: Im Juli 2022 bin ich auf eine Weiterbildungsreise gegangen. Ich schreibe diesen Artikel als eine Hommage an die Menschen, die ich dort kennen gelernt habe, die mich ermutigt haben, ich selbst zu sein. Mit Stolz auf das Fachwissen, das ich in der Zeit aufbauen konnte und auch als eine Danksagung an unseren Sozialstaat, der mit das ermöglicht hat.

Ausbildungsbeginn

Im Juli 2022 begann meine Ausbildung zum Supervisor und individualpsychologisch-systemischen Coach beim Verbund freier Trainer und Coaches, Berlin. Online. An einem Montag traf ich drei nette Menschen, die gleichzeitig starteten in einem virtuellen Raum, in dem uns kurz und knackig berichtet wurde worum es gehen wird und dann wurden wir freigelassen in eine Gruppe von ca. 20 Teilnehmerinnen, die schon länger dabei waren. Im rollierenden System der Ausbildung waren wir verwirrt, beeindruckt und mitgerissen. Es dauert ein paar Tage um uns zu orientieren und zu verstehen: ich darf diese Zeit genau so nutzen, wie ich es brauche, alles rausholen, was mir taugt und meinen Übergang selbst gestalten.

Sehr schnell kam die Erkenntnis, dass da auch andere suchende Menschen sind. Ich habe wertschätzen gelernt, was psychologische Sicherheit in einer Gruppe bedeutet und recht schnell mein Selbstvertrauen wiedergefunden, meinen eigenen Weg zu gehen.

Im letzten Jahr habe ich jeden Monat mindestens zwei Fachbücher gelesen und mich so intensiv mit den Inhalten auseinandergesetzt, wie ich es noch nicht mal in meinem Studium in Friedensforschung und Internationaler Politik damals getan habe (siehe Literaturliste am Ende). Zum Jahrestag des Ausbildungsbeginns habe ich meinen Skript drucken und binden lassen: beeindruckende 338 Seiten, die nicht nur die Rezension der Fachliteratur enthalten und meine Mitschriften aus den Kursen sondern auch ganz viele Selbstreflexionen.

Es hatte eine Weile gedauert, bis ich das Geschenk dieser Weiterbildung annehmen konnte: die Arbeitsagentur hat nicht nur die Ausbildungskosten übernommen, sondern auch meinen Lebensunterhalt – als alleinerziehende Mutter wäre mein Weg ohne diese Hilfe nicht möglich gewesen. Heute habe ich kein schlechtes Gewissen mehr. Ich weiß, dass ich die Chance wahr- und ernstgenommen habe und nun dem System das mich unterstützt hat etwas zurückgebe, indem ich selbst Menschen in schwierigen Lebenssituation durch mein Coaching helfe wieder Fuß im Berufsleben zu fassen.

Wendepunkt

Besonders beeindruckend und auch richtungsweisend war für mich die Woche zu Viktor Frankl und sein Satz:

Der Sinn besteht nicht in der Suche nach dem Sinn sondern im Tun.

Ab diesem Moment bin ich ins Tun gekippt. Tun im Sinne von ich beteilige mich aktiv in der Weiterbildung ich nutze sie optimal für mich. Tun aber auch im Drumherum: ich habe die Entscheidung getroffen, parallel zur Weiterbildung in Individualpsychologie noch die Ausbildung zur Anwenderin der Positiven Psychologie am Inntal Institut zu machen. Ich habe mich auch entschlossen mit meinem Projekt, als selbständige Coach zu arbeiten, sichtbar zu werden und habe in meinem erweiterten Freundeskreis und bei meinen ehemaligen Arbeitgebern angefragt ob Menschen gerne mit mir Coaching Erfahrung machen würden. So bin ich in eine ehrenamtliche Rolle geschlüpft: ich coache dich – du gibts mir Feedback.

Im Weiterbildungskontext habe ich mich selbst in meinem Ent-Wicklungs-Prozess beobachtet und bin gegen Ende des Jahres von einem „ich werde Coach“ zum „ich bin Coach“ gewechselt.

Halbzeitpause

Im Rückblick sehe ich die acht Weiterbildungsmonate als meine Halbzeitpause, in der ich mich neu sortiert und aufgestellt habe. Es waren viele Selbstreflexionen, Rückblicke auf mein Leben und Bestandsaufnahmen dabei. Meine ersten Blogartikel sind in dieser Zeit entstanden, wie der Lebenslauf des Scheiterns oder die Frage, wo die verbindende Line zwischen Friedensforschung und Positiver Psychologie liegt.

Und so schleichend Übergänge manchmal sind ging auch diese Weiterbildung leise zu Ende. Die Frage nach dem „wie geht es weiter“ hat sich dabei wie von selbst beantwortet und wieder viele neue Dinge zu tun gegeben: Eine Selbständigkeit vorbereiten, die formale Seite, die Finanzierung klären, die technischen Tools organisieren, meine Webseite gestalten… Ich habe viel recherchiert, gelesen, geschrieben. Ich habe begonnen mein Netzwerk aufzubauen und zu pflegen, Fachvorträge gehört und mich mit der social media Welt bekannt gemacht.

Übergang

Am Tag meiner Verabschiedung in der Weiterbildung hatte ich ein Vorstellungsgespräch für die Arbeit als Honorarkraft bei einem Bildungsträger, der das Jobcenter unterstützt Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit in stabile Arbeit zu begleiten. Ich habe nicht mit Zeugnissen sondern mit meiner Begeisterung für die Übergangsgestaltung mit Positiver Psychologie überzeugt und den vollen Vertrauensvorschuss bekommen. Heute bin bin ich an jedem Tag den ich mit meinen KlientInnen verbring stolz auf meine Arbeit, dankbar für die Chance und wieder einmal fasziniert, wie kurzweilig „Arbeit“ ist, die mir Spaß macht und für mich persönlich sinnvoll erscheint. Dieses Gefühl kenne ich glücklicherweise schon aus meinen vorherigen Lebensabschnitten, es ist aber nach dem bewussten Entscheidungsprozess für die Selbständigkeit noch intensiver erlebbar.

Parallel zu den ersten Aufträgen habe ich mehrere Wochen an meinem Businessplan gearbeitet und realisiert, dass meine neue Identität – Emily Haeusler, Coach und Übergangsgestalterin – nun real wird.

Einen Monat nach dem Weiterbildungsende hatte ich auch meine Zertifizierung zum Anwenderin der Positiven Psychologie abgeschlossen. Dabei habe ich mich so sehr vom Fieber des gelingenden Lebens anstecken lassen, dass die nächsten zwei Module für den Berater der Positiven Psychologie bereits gebucht sind.

Und noch etwas ist aus der Weiterbildung hervorgegangen: Das Positive Coaching Café. Seit März lade ich 14-tägig zum Coaching-Café ein, gebe dort Impulse aus der Landschaft der Positiven Psychologie und schaffe einen Raum für die Ehemaligen der Weiterbildung. Wir setzen das, was wir in der Weiterbildung erlebt haben im Coaching-Café fort. In einem psychologisch sicheren Raum sprechen wir über unsere beruflichen Projekte und Herausforderungen. Wir hören uns gegenseitig aktiv zu und ermutigen uns. Wir wachsen gemeinsam. Danke Mädels, dass ihr euch so treu zuschaltet! (Danke auch für den monatlichen Alternativtermin am Abend für alle diejenigen die wieder in Jobs mit festen Arbeitszeiten gestartet sind und am Vormittag nicht mehr dabei sein können!).

Ausblick mit Rückblick

Ich freue mich auf die zweite Halbzeit meines Lebens. Sie wird auch noch weitere Übergänge enthalten und ich bin gut gerüstet sie zu gestalten. Im größeren Rückblick auf mein Leben habe ich alle 7 Jahre ein neues Berufsleben erfunden: Nach dem Abitur 7 Jahre Studium an drei Orten in zwei Ländern, dazu Praktika in zwei weiteren Städten. 7 Jahre Lieben, Leben und Arbeiten in Afrika zu Themen soziale Integration und Resilienz. 7 Jahre alleinerziehende Mutter und Führungskraft in einer Flüchtlingsunterkunft für besonders Schutzbedürftige. Dort kam das Thema psychologische Sicherheit und die große Thematik der psychischen Erkrankungen auf die Agenda. Im Privaten waren es die Rolle als Angehörige einer psychisch erkrankten Person und die Vereinbarkeit von Ein-Eltern-Familie und Beruf. Mit meinem Ausstieg 2021 begann die aktuelle Phase mit Coachings, Suchen, Versuchen, Lernen, Finden, Verwirklichen.

In meiner Halbzeitpause durfte ich realisieren: Es sind nicht nur meine Aus- und Weiterbildung, die mich für meine Tätigkeit qualifizieren, sondern auch ein ganzer Sack voll Lebenserfahrung. In 7-Jahres Abschnitten gedacht beginnt schon das dritte Jahr, ich bin mittendrin in meiner neuen Lebensphase und plötzlich in der zweiten Halbzeit. Ich bin gespannt auf die Menschen, die ich bei der Gestaltung ihrer Halbzeitpause, ihres Übergangs und ihres gelingenden Lebens begleiten werden. Und ich bin neugierig und gespannt darauf, was als nächstes kommen mag: Ausbildungen die ich besuche, Bücher die ich lesen, Seminare die ich moderiere, Resonanzgruppen die ich gestalte, Blogartikel die ich schreibe, Menschen die ich kennen lerne und Netzwerke in denen ich ich selbst bin. Ich freue mich auf euch!

Anhang: Literaturliste eines Jahres

Individualpsychologie

  • Adler, Alfred. Menschenkenntnis. Köln: Ananconda, 2008.
  • Dreikurs, Rudolf, und Alfred Adler. Grundbegriffe der Individualpsychologie. 17. Auflage. Fachbuch. Stuttgart: Klett-Cotta, 2020.
  • Kishimi, Ichirō, und Fumitake Koga. Du musst nicht von allen gemocht werden: vom Mut, sich nicht zu verbiegen. Übersetzt von Renate Graßtat. 23. Auflage. Rororo 63405. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2022.

Positive Psychologie

  • Akhtar, Miriam. Mit Positiver Psychologie aus der Depression: Selbsthilfe-Strategien für Resilienz und mehr Lebensfreude. Übersetzt von Nina Kavelar. 1. Auflage. Stuttgart: TRIAS, 2019.
  • Blickhan, Daniela. Menschen beim Wachsen begleiten Coaching mit Impulsen aus der Positiven Psychologie 75 Karten. Paderborn: Junfermann Verlag, 2022.
  • ———. Mit Kindern wachsen: NLP im Alltag. Fünften erweiterte Auflage. Paderborn, Germany: Junfermann Verlag, 2012.
  • ———. Positive Psychologie im Coaching: von der Lösungs- zur Wachstumsorientierung. Reihe Coaching & Beratung Positive Psychologie. Paderborn: Junfermann Verlag, 2021.
  • Fredrickson, Barbara, Ursula Nuber, und Barbara Fredrickson. Die Macht der guten Gefühle: wie eine positive Haltung ihr Leben dauerhaft verändert. Frankfurt: Campus-Verlag, 2011.
  • Mangelsdorf, Judith. Positive Psychologie im Coaching: Positive Coaching für Coaches, Berater und Therapeuten. essentials. Wiesbaden [Heidelberg]: Springer, 2020.
  • Neff, Kristin, und Kristin Neff. Selbstmitgefühl: wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden. 1. Auflage, Deutsche Erstausgabe. München: Kailash, 2012.
  • Seligman, Martin E. P. Wie wir aufblühen: die fünf Säulen des persönlichen Wohlbefindens. Übersetzt von Stephan Schuhmacher. Vollständige Taschenbuchausgabe. Goldmann 22111. München: Goldmann, 2015.

NLP

  • Bandler, Richard, John Grinder, und Richard Bandler. Reframing: neuronlinguistisches Programmieren und die Transformation von Bedeutung. 9., neu Übers. Aufl. Reihe Kommunikation, NLP. Paderborn: Junfermann, 2010.
  • Dannemeyer, Petra, und Ralf Dannemeyer. NLP-Practitioner-Lehrbuch: Potenziale entfalten mit Neurolinguistischem Programmieren. Reihe Kommunikation Neurolinguistisches Programmieren. Paderborn: Junfermann Verlag, 2016.
  • Rogers, Carl R., Carl Ransom Rogers, und Madge K. Lewis. Therapeut und Klient: Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. Herausgegeben von Wolfgang M. Pfeiffer. 2. Aufl. Kindler Studienausgabe. München: Kindler, 1981.
  • Schmidt, Gunther. Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Zehnte Auflage. Carl-Auer Compact. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH, 2022.

Coaching und Supervision

  • Barthelmess, Manuel. Die systemische Haltung: was systemisches Arbeiten im Kern ausmacht. Systemische Therapie. Göttingen Bristol: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016.
  • Ebbecke-Nohlen, Andrea. Einführung in die systemische Supervision. Sechste Auflage. Carl-Auer compact. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag, 2022.
  • Kaldenkerken, Carla van. Wissen was wirkt: Modelle und Praxis pragmatisch-systemischer Supervision. Hamburg: tredition, 2014.
  • Kiesele, Karin. Überraschend anders fragen: Praxishandbuch für professionelle Kommunikation. Paderborn: Junfermann Verlag, 2022.
  • Nohl, Martina. Übergangscoaching: berufliche Veränderungen kompetent und erfolgreich gestalten. Reihe Coaching & Beratung Übergänge. Paderborn: Junfermann, 2011.
  • Schlösser, Andrea, und Karin Kiesele. Job-Coaching: Arbeitssuchende für den Arbeitsmarkt fit machen. Reihe Coaching Skills kompakt, Band 9. Paderborn: Junfermann Verlag, 2018.
  • Schmidt-Tanger, Martina. Veränderungscoaching: kompetent verändern ; NLP im Changemanagement, im Einzel- & Teamcoaching. 3. Aufl. Paderborn: Junfermann, 2005.
  • Talbott, Caroline. Berufliche Übergänge coachen. Übersetzt von Claudia Campisi. Reihe Coaching Skills kompakt, Band 7. Paderborn: Junfermann Verlag, 2017.

Anderes

  • Bauer, Joachim. Wie wir werden, wer wir sind: die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. Taschenbucherstausgabe. München: Wilhelm Heyne Verlag, 2016.
  • Brauer, Sandra. Werte-Karten Reflexion, Klärung, Veränderung. Paderborn: Junfermann, 2021.
  • Bucay, Jorge, und Jorge Bucay. Komm, ich erzähl dir eine Geschichte. Übersetzt von Stephanie von Harrach. 20. Auflage. Fischer 17092. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2020.
  • Sachse, Rainer. Persönlichkeitsstörungen verstehen: zum Umgang mit schwierigen Klienten. 11. Auflage. Köln: Psychiatrie Verlag, 2020.
  • Schmidbauer, Wolfgang. Hilflose Helfer: über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Überarbeitete und Erweiterte Neuausgabe, 21. Auflage. rororo Sachbuch 19196. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2018.
  • Schulz von Thun, Friedemann. Erfülltes Leben: ein kleines Modell für eine große Idee. München: Carl Hanser Verlag, 2021.

2 Gedanken zu „Zweite Halbzeit“

  1. Liebe Emily
    Wow- zu deinen Schritten und Deinem Mut. Die Haltung der positiven Psychologie spricht aus jeder Deiner Zeilen. Du hast mir richtig Lust drauf gemacht 🥰…
    Kann ich mich dem Positive Coaching Café anschließen?

    1. Liebe Anke,
      schön dass sich meine Begeisterung aus den Zeilen herausliest!
      Das Positive Coaching Café ist aktuell ein Online-Format für die Alumni meiner Weiterbildung. Bei Interesse initiiere ich ein Positives Coaching Café 2.0. für selbständige Coaches. Oder doch ein Life-Café in Karlsruhe – was meinst du? Lass uns dazu austauschen.

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