Den Anker nach vorne werfen

Der Mensch lebt und handelt in Erwartung dessen, was als nächstes passiert. Martin Seligman, dessen Antrittsrede als neuer Präsident der American Psychological Association 1998 als eine der Geburtsstunden der Positiven Psychologie als Wissenschaft gilt, sprach vom homo prospektus. Wir werfen dauernd unsere Anker nach vorne. Bewusst oder unbewusst.

Ich hatte bereits darüber geschrieben, wie sich Vermeidungs- und Annäherungsziele auf unser Wohlbefinden auswirken: Ziele, die so formuliert sind, dass wir das Gute und Schöne erwarten wirken positiv auf unsere Motivation, Engagement und Proaktivität, um den Weg in Richtung unseres Ziels zu gehen.

Soweit so gut für konkrete Ziele, die können leicht umformuliert werden (statt „ich will nicht mehr so ungeduldig sein“ sage „ich bin ein geduldiger Mensch und weiss, dass alles seine Zeit hat“). Aber wie formuliere ich eine positive Zukunftsvision, die mir in meiner aktuellen Übergangssituation hilft, zuversichtlich und motiviert zu bleiben?

Eine positive Zukunftsvision entwerfen

Auf der Überblicksseite von meinen Coaching-Karten „Übergänge mit Positiver Psychologie gestalten“ sieht man unter anderen im Bild „den Anker nach vorne werfen“. Genau darum geht es im Coaching der Positiven Psychologie: wir suchen nicht nach Ursachen von Problemen, auch nicht nach Lösungen für Probleme. Wie suchen nach Wachstum und attraktiven Visionen, die es den KlientInnen leicht machen, ihre Herausforderungen ganzheitliche zu sehen und in ihrem Denken, Fühlen und Handeln stimmig mit sich selbst und ihrem Umfeld aufzublühen.

Wo ist vorne?

Wohin werfe ich nun den Anker? Menschen, die ins Coaching kommen, haben meistens ein Problem, ein Anliegen oder eine Herausforderung im Gepäck. Oft sind sich die KlientInnen gar nicht bewusst, was sie stattdessen möchten. Im Coaching der Positiven Psychologie darf kreativ geträumt, fantasiert, gesponnen werden, wie das Leben nach der „Lösung“ des Anliegens aussehen wird. Das schließt Erinnerungen daran ein, was früher gut war, welche Stärken der Mensch in sich trägt, welche Energiequellen er nutzen kann. Manchmal ist auch ein Blick auf die Grundbedürfnisse oder die Selbstwertschätzung wichtig für eine neue Perspektive. Es beinhaltet auch den Mut, sich selbst so in der Zukunft vorzustellen, dass man ein glücklicher Mensch ist, der mit sich und seinem Leben zufrieden ist und sich selbst wertschätzt, lieb hat und gut für sich sorgt.

In der Positiven Psychologie wird dieser Zustand „die bessere Version von dir selbst“ genannt oder aufgefordert „werde wer du bist“. Ich mag beide Ausdrücke nicht so sehr, denn sie stellen deinen aktuellen Stand in ein negatives Licht. Wir sind alle heute genau so gut, glücklich, zufrieden, traurig, wütend, verärgert oder unglücklich wie wir es eben sein können. Trotzdem wünscht der homo prospectus in uns sich, zu wachsen, zu lernen, aufzublühen. Und wir können uns dafür Impulse setzen.

Impulsives Schreiben: Die Version von dir selbst die du lieb hast

Nimm dir Papier und einen Stift. Stelle dir den Wecker auf 20 Minuten. Dann schreibe, ohne den Stift abzusetzen (wenn keine Gedanken mehr kommen, schreibe das auf: „ich weiss gerade nicht mehr was ich schreiben soll…“). Der nächste Gedanke wird kommen. Schreibe zu einem Thema, das dir im Moment wichtig ist, aber projiziere es in die Zukunft in 6 Monaten, in 3 Jahren, in 15 Jahren oder bei deinem 80. Geburtstag. Schreibe trotzdem im Präsenz. Hier einige Settings und Vorschläge wie du dein Thema formulieren könntest:

• Setting 1: Ich fühle mich unsicher bei meinem beruflichen Übergang wie Karrierewechsel, Beförderungen oder Wiedereinstieg nach Elternzeit/ längerer Krankheit. Vorgehen: Stell dir vor, es sind sechs Monate seit deinem Berufswechsel vergangen. Dir geht es gut. Schreibe im Präsens: Wo bist du, was siehst du, was fühlst du, was hörst du? Wer umgibt dich? Was tust du? Schreibe ohne den Stift abzusetzen. Bist du an dem Ort, den du erwartet hast? Oder ganz wo anders?
• Setting 2: Ich habe innerlich gekündigt, ich möchte mich in meiner Berufssituation wieder wohlfühlen. Vorgehen: Stell dir vor, es sind seit heute 2 Jahre vergangen. Dir geht es gut mit deinem Job. Schreibe im Präsens: Wo bist du? Noch im alten Job oder in einem anderen? Was siehst du, was fühlst du, was hörst du? Wer umgibt dich? Was tust du? Schreibe ohne den Stift abzusetzen. Erlebst du Überraschungen?
• Setting 3: Ich stecke im Hamsterrad und habe keine Zeit für mich. Vorgehen: Stell dir vor, es ist ein Jahr vergangen – du hast dir me-time-Inseln geschaffen, die du so nutzt, wie es dir gut tut. Schreibe im Präsens: Wo bist du? Mit welcher Regelmäßigkeit nimmst du dir Zeit für dich? Woran merkst du, dass es dir besser geht? Was siehst du, was fühlst du, was hörst du? Wer umgibt dich? Was tust du? Schreibe ohne den Stift abzusetzen. Was könnte den nächste kleine Schritt dorthin sein?

Lege dein Geschriebenes anschließend für 72 Stunden zur Seite und lese es nicht noch einmal durch.

…und wirf den Anker noch weiter nach vorne, homo prospektus!

Durch das Schreiben verlangsamst du deine Gedanken. Du darfst dich auf die Version von dir selbst konzentrieren, die du lieb hast und die in ihrem Tun aufblüht. Dabei erlaubst du dir vorzustellen, wie gut alles wird. Du wirfst deinen Anker nach vorne und ohne es recht zu merken, wirst du Bilder, Gefühle und vielleicht auch schon Wege verinnerlichen, die dich anziehen. Im Gehen wird deine Vision konkreter, jedes Mal, wenn du die Ankerleine ein Stück einrollst. Und kommst du deinem Anker zu nah, ist es Zeit, ihn weiter nach vorne zu werfen, Homo prospectus.

Meine Zukunfts-Anker

Ich persönlich habe einige Anker ausgeworfen. Ein großer Anker steht für meine Selbständigkeit als Coach und Supervisorin. Weitere Anker habe ich für Kooperation mit Bildungsträgern, mit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, dem Verband für Angehörige psychisch kranker Menschen und mit der Karlsruher Coaching Community ausgeworfen und bin schon dabei sie zu lichten und gemeinsam weitere Anker zu werfen.

Der nächste Anker ist es, Resonanzgruppen für meine Zielgruppen anzubieten. Der Weg dorthin wird klarer und bald konkret und ich freue mich riesig darauf! Das Spiel aus Anker werfen, einholen wieder auswerfen, vielleicht auch neu auswerfen, wenn mal ein Wurf daneben ging steht für mich für eine aktive und authentische Lebensgestaltung, bei der der Weg im Gehen entsteht, aber nicht wahllos ist. Wir dürfen uns immer wieder aufs Neue entscheiden, unser Leben zu einem gelingenden Leben zu gestalten und glücklich zu sein.

Möchtest du mehr erfahren? Gerne sprechen wir in einem kostenfreien Erstgespräch oder einfach so in einem positiven Plausch darüber.